milchhaut


Er kam seit einigen Wochen zur Therapie in meine Praxis, einer jener Klienten, die ich zunächst abweisen wollte, da ich schon im ersten Gespräch erkannt hatte, daß er weder an einer psychischen Erkrankung, noch einer Neurose erkrankt war.
Vielmehr litt er unter dem Doppelleben, das er seit mittlerweile acht Jahren führte und seit fast ebensolanger Zeit zu beenden versuchte, was ihm durch seine Ängste, in seinem Umfeld als pervers und abnormal zu gelten, bislang nie gelungen war.
Mit gesenktem Blick erklärte er mir, sich seit jeher von Frauenfüßen angezogen zu fühlen, auch der Anblick gewisser Schuhe und Strümpfe erregten ihn mehr als ein vollständig entkleideter Körper. Er mied den Begriff des Fetischismus und starrte regungslos zu Boden, als fürchte er meine Antwort wie Schläge ins Gesicht.
"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann", erklärte ich ihm ehrlich, "ich kann und will Ihre Vorlieben nicht verändern, dafür gibt es weder eine Pille noch einen Grund. Das einzige, wobei ich Ihnen behilflich sein kann, ist, Sie darin zu bestärken, sich selbst zu akzeptieren und schließlich den Schritt aus Ihrem Doppelleben heraus zu wagen."

Sein Fall weckte mein Interesse, ich hatte schon mehrere Artikel über die sogenannte Podophilie gelesen, aber noch keinen Menschen mit dieser Neigung behandelt, die ich im übrigen nicht für krankhaft hielt. Ich schlug ihm eine Gesprächstherapie vor und er akzeptierte.
Rasch entwickelte sich zwischen uns ein Vertrauensverhältnis und seine Berichte zeugten von schonungsloser Offenheit.
Fasziniert von seiner Redegewandheit lauschte ich seinen Ausführungen, die bis ins letzte Detail von weiblichen Füßen dominiert wurden. Füßen in aufregenden Netzstrumpfhosen, versteckt in hohen Stiefeln, aus denen sie langsam befreit wurden, nackten Füßen, die er mit seinen Händen massierte und knetete, ohne je davon genug bekommen zu können.
An dieser Stelle brach er seinen Bericht ab und sah mich nachdenklich an.
"Können Sie sich das eigentlich vorstellen", fragte er leise, "daß einen Füße derartig um den Verstand bringen? Gerade Füße, die für die meisten nur zum Stehen und Laufen da sind, stinkende Mutationen der Hände, die in der Gesellschaft das unterste in der Achtung des Körpers darstellen."
"Die Gesellschaft", setzte ich seufzend zu meiner Antwort an, "die Gesellschaft engt den Begriff der Normalität auf einen Bruchteil dessen ein, was in Wahrheit Gang und Gäbe ist.
Nehmen Sie allein das Wort 'Fetisch': die negative Prägung ist nicht zu leugnen, es impliziert etwas verbotenes, unanständiges. Dabei kann man den Fetischismus täglich beobachten.
Ist Ihnen einmal aufgefallen, wieviele Frauen größte Bewunderung für Männerhände hegen? Auch ein Fetisch, wenn Sie mich fragen. Aber allgemein anerkannt als Zeichen für ein gepflegtes Äußeres. Da haben es die Füße schwerer. Sie berühren den Boden, werden beim Gehen auf der bloßen Erde schmutzig, in Schuhe gezwängt beginnen sie einen typischen Geruch abzusondern. Nicht der Fuß an sich ist würdelos, sondern das, was die Zivilisation im Laufe der Zeit aus ihm gemacht hat."
Er starrte mich an, beeindruckt von der Empathie, mit der ich ihm aus der Seele sprach.

Er hatte mir Photos gezeigt von Frauen, die ihre Füße erotisch ins Rampenlicht zu setzen verstanden, desweiteren Videos, auf denen Männer an Füßen leckten und kneteten, oder gar eine Person barfuß mit vollem Gewicht auf ihrem Gesicht stand.
"Ekelt Sie das nicht? Müßte es einen nicht zwangsläufig anwidern, den Schweiß am Fuß einer fremden Person abzulecken?", hakte er nach.
"Mit den Füßen verhält es sich wie mit Milchhaut." Wieder sah er verständnislos auf.
"Der eine bekommt davon Brechreiz", fuhr ich fort, "der andere trinkt die Haut mit und findet sie sogar ganz lecker."
Ich lächelte kurz bei der Erinnerung an jenen Abend, als ich meiner damaligen Freundin, die inzwischen meine Frau ist, zum ersten Mal einen heißen Kakao zubereitete.
'Wage es bloß nicht, mir jemals wieder einen Kakao mit Milchhaut zu servieren', hatte sie gezischt, 'sonst brauchst Du gar nicht mehr bei mir aufzutauchen.' Ich hatte mich bis heute daran gehalten.
Es war nicht meine Art, persönliche Inhalte in die Therapie einzubringen, daher schwieg ich.
Er schien noch nicht überzeugt.
"Im übrigen", legte ich nach, "wo ist der Unterschied, ob ein Mann sein Gesicht an den Fußsohlen oder im Schoß einer Frau versinken läßt?"

In den nächsten Wochen kamen wir gut voran, mit wachsendem Selbstvertrauen erzählte er mir von seiner Kindheit, die meines Erachtens völlig unauffällig verlaufen war. Er brachte sogar getragene Nylonstrümpfe in einem Plastikbeutel mit, um mir eine bessere Vorstellung seiner Leidenschaft zu ermöglichen, was ich allerdings dankend ablehnte.
Vielmehr interessierten mich seine Phantasien, seine Vision, wie ein Sklave auf dem Boden zu legen, und von einer oder gar mehreren Frauen gleichzeitig betreten zu werden, um wörtlich selbst zu dem Boden degradiert zu werden, auf dem sie wandelten.
Die Erniedrigung, die er dabei empfand, verhalf ihm zu größtem Lustgewinn, gedemütigt und am Boden liegend konnte er völlig authentisch sein und hatte nichts zu befürchten oder zu verlieren.

Schon während meines Studiums hatten mich die unterbewußten, triebhaften Abgründe des menschlichen Geistes fasziniert, die streng gehüteten Geheimnisse, die meist kein anderer Mensch außer dem Therapeuten zu hören bekam.
Ich hatte ihre Erniedrigung erspürt, ihre Unterwürfigkeit, die sie in meine Person hineinprojizierten, hatte nachempfunden, wie sie unter ihrer erdrückenden Fassade kauerten, wie sie um mein Urteil warben, um mein Verständnis.
Dabei wurde mir regelmäßig meine Überlegenheit bewußt, die sich aus dieser Konstellation ergab, ich, der die Fäden in der Hand hatte, dem die Entscheidung über richtig und falsch überlassen wurde.
Nie wäre ich auf die Idee gekommen, diese gefährliche Macht auszunutzen, geradezu pedantisch achtete ich die Gesetze meines Ethos, die vorbehaltlose Akzeptanz und Wertschätzung an oberste Stelle stellten.
Mit den Jahren hatte mich die Erfahrung gelehrt, daß jeder Mensch auf diesem Planeten reif für eine Psychotherapie wäre, wenn die Gesellschaft ihre Intoleranz auf dessen Leidenschaft fokussierte.
"Warum kommen Sie noch weiter zu mir?", fragte ich ihn deshalb acht Wochen nach Therapiebeginn, "Sie kennen Ihre Vorlieben und erzählen davon mit einer Begeisterung, wie sie mancher in seinem Leben noch nicht erfahren hat. Sie sind bei klarem Verstand und können Ihre Ansichten schlüssig vertreten. Sie besitzen das nötige Feingefühl, um sich in der Öffentlichkeit so darzustellen, wie es für Sie und andere annehmbar ist. Ich glaube nicht, daß sie mich noch länger benötigen."
Wir verabschiedeten uns, ohne einen neuen Termin auszumachen, und es war das letzte Mal, daß er zu mir in die Praxis kam.


© 2006 chanel

-

zurück zur übersicht.